Glauben II

In der Fortsetzung des gestrigen Beitrag folgt der Blick auf die andere Seite der Gläubigkeit in Lateinamerika.

Um klar zu stellen, dass die Kirche nicht nur positiven Einfluss hat muss man nicht immer Themen wie sexuellen Missbrauch bemühen. Probieren wir es mit einem Schüler des Colegios. Seine Antwort auf die Frage nach seinen Plänen für die Zukunft: „zuerst Gott und dann ...“. Gott steht hier mit Worten immer an erster Stelle. Aber häufig eben nur in Worten und nicht in Taten. Gott wird nicht nur gerne als Inspiration genutzt sondern auch als Entschuldigung. Weil alles in Gottes Hand liegt braucht sich der Einzelne ja nicht für die Sache einzusetzen. Weil Gott alles verzeiht ist es auch nicht so schlimm wenn man Schuld auf sich lädt.

Weil alles von Gott abhängt baut man für viel Geld eine Kirche um Gott um die Linderung der Armut und um den Schutz vor Krankheiten zu bitten. Doch die Wasserversorgung, die einen effektiven Beitrag zur Verbesserung der Gesundheit der Menschen leisten könnte, wird nicht erstellt. Weil Jesus der beste Freund und Pastor eines jeden Einzelnen ist fehlt plötzlich der Freund in Gestalt eines Menschen. Der Freund mit dessen Hilfe man gemeinsam etwas konkretes bewegen könnte ist bei aller Betonung der Freundschaft einfach nicht existent.

Jeder hat im Leben immer wieder die Chance ein besserer Mensch zu werden. Doch welchen Eindruck hinterlässt ein evangelischer Pastor der den Schülern in allen Details von seinem Drogeneskapaden, von Alkoholmissbrauch, dem Betrug an seiner Ehefrau und der Zeugung von ausserehelichen Kindern erzählt? Welche Art von Vorbild vermittelt er jungen Teenagern wenn er seine Ausführungen mit den Worten „aber Gott hat mir verziehen“ schliesst?

Nehmen wir eine Familie mit einem verhaltensauffälligen Kind in der Schule. Als die Eltern von der Lehrperson darauf aufmerksam gemacht wurden wollten sie ihr Kind aus der Schule nehmen. Die Begründung ist so einfach wie (un)logisch. „Da wir eine gut-christliche Familie sind kann es nicht an unserem Kind liegen. Folglich muss die Schule einen schlechten Einfluss auf das Kind haben und davor müssen wir es schützen“. Es klingt wie ein schlechter Witz und ist doch bitterer Ernst.

Durch die Aufklärung hat sich in Europa die Geisteshaltung verändert. Der Mensch lernte, dass nicht alles Gott gegeben ist. Er lernte seinen Verstand zu benutzen und die Welt zu verändern. Er hat es soweit gebracht, dass er heute im Überfluss zunehmend die Orientierung verliert und Gefahr läuft die damit verbundene Verantwortung zu übersehen. Auf der anderen Seite des Atlantiks kam zwar die Errungenschaften der Aufklärung, nicht aber die damit verbundene Geisteshaltung an. Wer sich ernsthaft mit den Problemen Lateinamerikas beschäftigen will kommt wahrscheinlich nicht darum herum das Thema Glaube in dieser Region einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen.

Geschrieben am 24.03.2010 von villosoph

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